Der Beitrag neuer Technologien
Die Nachfrage nach medizinischen Leistungen (Quantität) und nach der immer höheren verfügbaren Qualität von Diagnose und Therapie (z. B. individuelle Therapien, Präzisionsmedizin) steigen gleichzeitig an. Beide Faktoren wirken kostentreibend.
Neue technologische Lösungen können aber z. B. über Prozessoptimierung maßgeblich dazu beitragen, die Kosten im Griff zu haben und den Fachkräftemangel wenigstens teilweise aufzufangen (Beispiel Robotik). Auch für die Versorgungsqualität bieten sich unter anderem mit einer intelligenten Nutzung der Gesundheitsdaten große Chancen (vgl. Kachel 02.1, Elektronische Patientenakte). Smart Devices können ein Monitoring der Behandlungsdaten in Echtzeit, eine Medikationssteuerung und eine Verbesserung der Therapietreue ermöglichen.
Der Zukunftsrat empfiehlt
Effekte erforschen
Diskutiert wird vor allem, ob die personalisierte bzw. individualisierte Medizin das Gesundheitssystem unbezahlbar macht oder aber vielleicht gerade erst bezahlbar. Angesichts der großen Potenziale im Hinblick auf die Vermeidung von unerwünschten Neben- und Wechselwirkungen spricht vieles dafür, dass die personalisierte Medizin nicht nur die Versorgungqualität für den Einzelnen optimiert, sondern dass auch das Gesundheitssystem im Ganzen profitieren kann. Hierfür wäre allerdings eine Gesamtbetrachtung erforderlich, wie sie heute noch nicht vorgesehen ist. Um Fehlanreize zu vermeiden (positive Effekte entstehen an anderer Stelle als Kosten), ist eine solche Herangehensweise unabdingbar.
Die Effekte auf die Gesundheitsversorgung, die Akzeptanz medizintechnischer Innovationen in der Gesellschaft sowie die Auswirkungen einer höheren Selbstbestimmung und Eigenverantwortung der Patienten sollten begleitend untersucht werden, einschließlich der Veränderungen bei der Rolle der Apotheken im Zuge der Individualisierung der Medizin. Dazu zählen auch die damit einhergehenden rechtlichen, ethischen und ökonomischen Aspekte.
Digitalisierung vorantreiben
Die Digitalisierung eröffnet auch im Gesundheitsbereich ganz neue Möglichkeiten: vom Informations- bzw. Erkenntnisgewinn über eine Datenerfassung, -speicherung und -verarbeitung in Echtzeit einschließlich der Kommunikation für Fragen zur Diagnose und Therapie (u. a. übergreifende Therapieansätze, Vermeidung allergischer Reaktionen etc.) bis hin zu neuen Forschungsansätzen mit Big-Data-Methoden oder KI-Systemen in unterstützende Funktion bei Diagnose, Entscheidungsfindung (z. B. Analyse/Interpretation der Daten aus bildgebenden Verfahren) und Therapie (Beispiel: rechnergestützte Chirurgie).
Auch für administrative Prozesse können sich durch eine intelligente Datenauswertung neue Möglichkeiten ergeben: Bisher ist z. B. die Planbarkeit von Arztterminen im Hinblick auf den Zeitbedarf nur eingeschränkt gegeben. Während das beim Radiologen noch vergleichsweise einfach möglich ist, ist beim Orthopäden nur absehbar, dass Erstkontakte länger dauern als Folgekontakte. Der Einsatz von Big-Data-Methoden könnte die Triage maßgeblich verbessern und damit auch einen Beitrag zur schnelleren Terminvergabe bzw. besseren Terminallokation zur Verringerung der Wartezeiten leisten.
Diese Gebiete, in denen der Einsatz digitaler Techniken im Gesundheitswesen wirkt, sind nicht unabhängig voneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig, wie es dem Wesen der Digitalisierung entspricht (vgl. auch die Grafik unten bei Synergien heben).
Ethische Fragen ansprechen
Mit Fortschreiten der technischen Möglichkeiten werden an verschiedenen Stellen Fragen aufkommen, die eine neue Auseinandersetzung mit unserer Vorstellung von Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde erfordern. Was ist beispielsweise zu tun, wenn die KI-Empfehlung stets besser ist? Überträgt man ihr dann auch die Entscheidungsbefugnis, weil alles andere Formalismus wäre? Und wenn man ihr die Entscheidungsbefugnis überträgt, wer trägt die Verantwortung? Wird der Patient seine Daten angeben müssen, um Leistungen zu beziehen, weil nur so optimale Versorgung sichergestellt werden kann? Wie wird eine Versicherung auch für schlechte Risiken gewährleistet, wenn alles, u. a. mit der Genomanalyse, transparenter wird? Gibt es insoweit künftig noch ein Recht auf Nichtwissen, auch wenn man den Ausbruch vieler Krankheiten mit eigenem Verhalten verhindern oder stark verzögern könnte?
Über diese und weitere Fragen muss ein begleitender interdisziplinärer Diskurs geführt werden, ohne aber gesetzgeberischen Aktionismus auszulösen.
Die aktuell gültigen ethischen Grundsätze müssen konsequent eingehalten werden. Die Ethik darf aber nicht als Rechtfertigung für eine überschießende Regulierung missbraucht werden. In ethischen Grauzonen muss es möglich sein, für Forschungszwecke Experimentier(frei)räume zu belassen.
Akzeptanz schaffen
Gerade im sensiblen persönlichen Bereich der Gesundheit ist die Akzeptanz ein zentraler Erfolgsfaktor, z. B. für den Einsatz digitaler Technologien. Der Bürger und Patient darf dabei allerdings nicht unterschätzt werden: in einigen Bereichen ist seine Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, wesentlich höher als die des Gesetzgebers.
66 Prozent der Bevölkerung vertrauen darauf, dass gerade Ärzte und Krankenkassen mit ihren personenbezogenen Daten verantwortungsvoll umgehen. Das ist der höchste Wert im Hinblick auf die Gesamtheit der Akteure, nach denen gefragt wurde, und mehr als doppelt so hoch wie das dem Staat und der Verwaltung entgegengebrachte Vertrauen. Das spricht erst recht dafür, das durch Digitalisierung stark getriebene neue Verhältnis zwischen Arzt und Patienten zum beiderseitigen Nutzen einzusetzen, auch unter Einbindung der Krankenkassen. Staatliche Lösungen müssen hier nicht zwingend von Vorteil sein.
Wesentliches Element ist in jedem Fall eine umfassende Information der Patienten sowie der Gesellschaft im Ganzen über die Vor und Nachteile innovativer Medizintechnologie für eine individuell optimale Gesundheitsversorgung.
Wo es darum geht, die Gesellschaft zum Mitmachen zu aktivieren, muss auch hinterfragt werden, in welche Richtung die bestehenden Regelungen die Entscheidung lenken. Unabhängig davon, wie man zum sogenannten „Nudging“ (ein Anstoß unterhalb der Ebene von Ver oder Geboten bzw. ökonomischer Anreize, durch den das menschliche Verhalten auf vorhersagbare Weise beeinflusst werden soll) durch staatliche Stellen steht: man kann mit gesetzgeberischen Weichenstellungen nicht nicht beeinflussen. Ein Beispiel hierfür ist die Organspende. Die Anzahl potenzieller Spender ist in Deutschland wesentlich geringer als in vergleichbaren Ländern. Dabei ist gleichzeitig die Blutspende ein vergleichsweise erfolgreich ein geführtes Instrument, auch wenn hier ebenfalls ein noch höherer Bedarf besteht. Insgesamt spenden nach Angaben des Deutschen Roten Kreuzes rund drei Prozent der Bevölkerung regelmäßig Blut, was über dem europäischen Durchschnitt liegt. Die Aufwandsentschädigung kann angesichts der geringen Höhe (zwischen 10 und 28 Euro pro Vollblutspende, höher bei Thrombozyten) jedenfalls nicht der alleine entscheidende Faktor sein; hinzu kommen der Wunsch, anderen zu helfen und die Erwartung, im Ernstfall selbst eine notwendige Blutkonserve erhalten zu können – Aspekte also, die bei der Organspende genauso greifen müssten. Eine Umstellung auf ein „OptoutModell“ sollte im Interesse der Mehrheit der Bevölkerung liegen und ist anzustreben.
Auch sollte geprüft werden, ob nicht eine „Datenspende“ (z. B. für Studien zur Erforschung von Krankheitsbildern, Gesundheitsgefahren etc.) mit entsprechenden datenschutzrechtlichen Erleichterungen bei der späteren Nutzung der Daten (etwa für einen anderen als den ursprünglich angedachten Forschungszweck) als neuer Ansatz eingeführt werden könnte.